96-Boss Kramer: Der Vereinschef, der aus der Kurve kommt

Das Wichtigste in Kürze
- Wenn Sebastian Kramer nach mehr als 30 Jahren in der Fankurve über den modernen Fussball spricht, dann klingt dort eine Menge Kritik, Empörung und auch eine Befürchtung heraus: «Wenn ich sehe, wie viel Geld in diesen Markt gepumpt wird, dann denke ich manchmal: Mit dem Fussball kann es auch so enden wie mit der Kreditblase», sagt der 42-Jährige.
«Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem diese Blase platzt.» Denn dem Fan werde in diesem Millionengeschäft nur noch eine Rolle zugewiesen: «Kaufen, konsumieren, Klappe halten, nach Hause gehen: Das ist die Tendenz.»
Seit er sechs Jahre alt ist, besucht Kramer die Heimspiele des Bundesliga-Absteigers Hannover 96. So wie er sehen das viele Anhänger in den Stadien. Ein Unterschied ist nur: Kramer steht dem, was er da beklagt, nicht machtlos gegenüber. Denn er ist nicht nur seit 1992 treuer Fan von Hannover 96, sondern seit April dieses Jahres auch der Vorstandsvorsitzende. Ein Vereinschef, der aus der Kurve kommt.
Er wolle den Leuten «das Gefühl zurückgeben, dass der Verein allen gehört und nicht nur Einzelpersonen», sagt der Nachfolger von Martin Kind in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. Und, ganz grundsätzlich: «Dafür, dass der Fussball ein Volkssport bleibt, würde ich auch in Kauf nehmen, dass ich mir im Champions-League-Halbfinale nur noch Liverpool gegen ein anderes englisches Team angucken kann.»
Im Fussball tobt seit Jahren ein Kulturkampf. Auf der einen Seite: Diejenigen, die sagen, dass man sich keinen Einnahmen verschliessen sollte, wenn man sportlich mithalten will. Auf der anderen Seite: Fans, «die das Gefühl haben, dass sie den Fussball und den Verein, den sie kennen und lieben gelernt haben, verlieren», wie Kramer sagt.
Wer allein die Explosion der Transfersummen verfolgt, der sieht: Die Kräfteverhältnisse in diesem Kulturkampf sind ziemlich eindeutig. Es gab aber gerade in der abgelaufenen Saison auch mindestens zwei Ereignisse, die als symbolischer Sieg der Fanszenen über den modernen Fussball gewertet wurden: Die Abschaffung der Montagabendspiele in der Bundesliga ab 2021. Und die Mitgliederversammlung von Hannover 96.
Damals im März eroberte die Opposition alle Sitze im Aufsichtsrat und ernannte den langjährigen Fanbeauftragten Kramer zum Vorstandschef. Dessen Vorgänger Martin Kind dominiert zwar weiterhin den ausgegliederten Profifussballbereich, während Kramer den Stammverein mit seinen rund 23.000 Mitgliedern und 17 Abteilungen führt. Trotzdem sitzen nun beide an einem Tisch, wenn es um die Kernfrage geht, wie viel Einfluss der Verein auf die Profifussballer behalten soll.
«Die Seriosität, mit der die Fans an der Thematik gearbeitet haben, belegt, was für ein wertvoller Partner sie sein können», sagt Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fan-Projekte in Frankfurt, über das Beispiel Hannover. Es ist ein Beispiel, das auch anderen Fangruppen Mut macht. Denn an diesem Sonntag findet die Mitgliederversammlung des VfB Stuttgart statt. Mit zahlreichen Anträgen wurde erwirkt, dass eine mögliche Abwahl des umstrittenen Präsidenten Wolfgang Dietrich auf die Tagesordnung gesetzt wird.
Bei aller Zuspitzung solcher Konflikte betont der Fanexperte Gabriel aber auch: «Fans und Vereine haben das gleiche Interesse, dass die Nähe des Zuschauers zum Fussball beibehalten wird.»
Ob das stimmt, wird auch in den nächsten Wochen wieder besonders gut in Hannover zu beobachten sein. Denn dort schwelt weiter ein Grundsatzstreit über das Reizthema 50+1-Regel, die zumindest in Deutschland den Einfluss von Investoren auf Proficlubs begrenzt.
Martin Kind möchte eine Ausnahmegenehmigung von dieser Regel, um sicherzustellen, dass über Belange des Profifussballs nur noch in der Profifussballabteilung entschieden wird. Die Führung des 96 e.V. dagegen will, dass der Verein seinen Einfluss auf den Fussball behält.
Beide Seiten verhandeln seit Wochen, Kind selbst wollte sich zu diesen Gesprächen nicht äussern. Sein Nachfolger Kramer aber sieht die Dinge so ähnlich wie der Fanexperte Gabriel. Auch er glaubt, dass man einen Kulturkampf nicht nur auf den Barrikaden führen kann, sondern irgendwann eine gemeinsame Lösung braucht. Ob es nun um Anstosszeiten und Eintrittspreise geht - oder um den Umgang mit 50+1.
«Ich möchte nicht, dass irgendjemand bei der DFL oder bei einem Schiedsgericht entscheidet, was mit Hannover 96 passiert», sagt Kramer. «Es ist wichtig, zu sagen: Wir sind erwachsene Menschen, wir sitzen hier, wir reichen uns die Hände und haben etwas vereinbart.»