Migranten oder Milliardäre? Es ist imfall kein Wettbewerb

Das Wichtigste in Kürze
- Sollte das Flüchtlingsboot nicht mehr Aufmerksamkeit geniessen als das Titan-U-Boot?
- Die Frage lässt sich so nicht stellen oder beantworten.
- Ein Kommentar.
Mehrere Hundert Menschen sind beim Bootsunglück vor der griechischen Küste ums Leben gekommen. Die Vorwürfe an die Küstenwache sind happig: Die Katastrophe hätte sich verhindern lassen.
Quasi parallel dazu spielte sich im Atlantik eine andere Tragödie auf hoher See ab. Ein Mini-U-Boot mit fünf Passagieren wird beim Wrack der Titanic vermisst. Tagelang wird mit einer grossangelegten Suche, viel Personal und teurem Gerät, eine Rettung versucht. Bis sich herausstellt, dass alle Mühen vergebens waren.
Traurig, aber wahr
Beides sind traurige Ereignisse. Traurig ist aber auch, dass jetzt Diskussionen aufflammen, welche Story denn jetzt wie zu bewerten oder beachten sei. Die einen klagen, dass man sich kaum für die Flüchtlinge interessiere und viel eher mit diesen Milliardären mitleide. Zwischen den Zeilen kann man auch lesen: Die haben es nicht anders verdient, selber schuld.

Was wiederum andere zum Vorwurf verleitet, die einen seien Unmenschen, und selbst habe man sehr wohl auch Mitleid mit Migranten. Auch wenn es, zugegebenermassen, zum Bootsunglück im Mittelmeer keinen Live-Ticker gab.
Ist 700 mehr als 5? Rechne!
Haben die fünf vom Leben privilegierten U-Böötler zu Unrecht derart viel Aufmerksamkeit erhalten? Schliesslich sind es rund hundert Mal weniger Tote als bei der Mega-Flüchtlingskatastrophe. Deswegen sind wir aber nicht Unmenschen, sondern im Gegenteil sehr menschlich.

Es geht einerseits um den Faktor «Identifikation», wie Psychologin Grit Hein sehr schön erläutert. Die meisten von uns haben sich nie in einer Flüchtlingssituation befunden, waren aber schon mal auf einem Boot, in einem engen Lift, haben in der Dunkelheit den Lichtschalter nicht gefunden. Kurz, können sich einfühlen in die Milliardärs-Psyche, minus das ganze schöne Geld.
Es geht darum, dass es gar nicht darum geht
Es geht doch darum, dass die Rechnung gar nicht so gemacht werden kann. Wir kennen die Flüchtlinge nicht, sie haben keine Namen und keine Gesichter, was, klar, objektiv gesehen eine Schweinerei ist. Subjektiv betrachtet aber geht es dort um die x-te Wiederholung, die wir zur Kenntnis nehmen, aber die uns abstumpft. Das ist unfair, aber menschlich.

Es ist, wie wenn Marco Odermatt ein Weltcup-Rennen gewinnt: Wir nehmen es zur Kenntnis, aber langsam aber sicher, Herr Odermatt, wird das auch langweilig. Das ist unfair, aber menschlich, und wir schämen uns ein bisschen dafür, aber nur, wenn Sie sich auch schämen, dass Sie ein bisschen übermenschlich sind.

Hier aber geht es um die Titanic: Das legendärste jemals gesunkene Schiff, Drama pur, jetzt auch noch mit dem Suspense-Thriller von fünf in einer Hightech-Büchse Verschollenen. Zugegeben, und das ist mir jetzt auch leicht peinlich: Ich habe den Film kein einziges Mal gesehen. Und dieser Song, naja. Whitney Houston kann sicher gut singen, aber Balladen sind nicht so mein Ding.
Fragen Sie sich selbst
Die Fünf haben Namen und Gesichter, unsere Neugierde ist angestachelt, wir wollen alles wissen über dieses U-Boot, die Luftvorräte, die Biografien, die Sonar-Bojen. Was längstens nicht heisst, dass wir diese oder jene Person sympathischer finden, vielleicht sogar im Gegenteil.
Im Tod sind alle gleich, aber mit Toten lässt sich keine rechnerische Gleichberechtigung bewerkstelligen. Es sind rund 1500 Menschen beim Untergang der Titanic gestorben – jetzt sogar noch fünf mehr, das sind imfall doppelt so viele wie im Mittelmeer. Könnte man ja auch sagen. Sollte man?
Was interessiert Sie mehr? Flüchtlingskatastrophe oder Titanic-Drama?
Sollte man nicht den Dutzenden Toten beim Brand/Bandenkrieg in einem kolumbianischen Frauengefängnis auch mehr Beachtung schenken? Den 31 Toten bei einer Gasexplosion in einem Restaurant in China, oder den ebenfalls 31 Toten, ebenfalls bei einer Explosion in einer stillgelegen südafrikanischen Mine? Haben Sie das beachtet?
Alles in den letzten Wochen passiert. Mindestens 27 Tote bei Unwettern in Pakistan, mindestens 42 bei Überschwemmungen in Haiti. In Nigeria gab es ebenfalls ein Bootsunglück, mit 150 Toten. In Indien eine gigantische Zugkatastrophe mit über 200 Toten.
Sind diese Menschen unsere Beachtung vielleicht nicht wert?
Oder sollten wir viel eher das beachten, worüber nicht einmal Nau.ch berichtet hat: Morgen wird der Asteroid 467336 (2002 LT38) nahe an der Erde vorbeisausen. Gemäss Nasa ist er so gross wie – tadah! – die Titanic. Keine Angst, es wird nichts passieren. Er ist nur etwa zehnmal grösser als derjenige von Tscheljabinsk und da gab es ja auch nur 1500 Verletzte.

Abgesehen davon, dass wir gegen selbigen wie auch gegen den morgigen ziemlich wenig ausrichten könnten. Also schauen wir lieber den U-Boot-Suchern zu, wie sie die Spannung bis im letzten Moment hochhalten. Nicht weil es wichtiger wäre, sondern weil wir menschlich sind.
Übrigens, wussten Sie schon?
Die griechische Küstenwache hat in der Woche zuvor auch 100 Migranten aus Seenot gerettet. Das sind 96 Menschen mehr als die aus dem kolumbianischen Urwald geretteten indigenen Kinder. Was wurde wohl mehr beachtet? Zugegeben, ersteres hatte ich auch nicht gewusst.

Ha, ich wusste auch gar nicht, dass Whitney Houston gar nicht mehr singt. Was, die lebt sogar gar nicht mehr? Jetzt hören Sie aber auf. Dabei sah sie bei ihrer Las-Vegas-Revue noch so lebendig aus. Ist das jetzt wichtig?