

Amriswil: Die Zukunft der Bekleidungsgestalter ist gesichert

Schweizweit gibt es nur wenige Ausbildungsplätze für Jugendliche, die den Beruf der Bekleidungsgestalterin oder des Bekleidungsgestalters EFZ erlernen möchten.
Seit der Bildungsreform im Jahr 2014 sind aufgrund der steigenden Anzahl an überbetrieblichen Kursen die Kosten, welche ein Fachgeschäft für einen Auszubildenden aufbringen muss, geradezu explodiert.
So war es in den letzten Jahren vielen Ateliers finanziell schlicht nicht mehr möglich, Lernende zu beschäftigen und auszubilden. Gleich erging es auch Claudia Stäheli vom Couture Atelier «la vie en rose». 15 Jahre hat sie jährlich einen Ausbildungsplatz angeboten, bis es nicht mehr drin lag.
Es fehlt der Kundenkontakt
Weil immer mehr geschäftlich geführte Ateliers als Ausbildungsplätze weggebrochen sind, findet die Ausbildung vermehrt nur noch in Lehrateliers, angegliedert an Berufsschulen statt. Schwierigkeit: Die Lernenden verpassen das tägliche Geschäft, den Kundenkontakt, sowie die Betreuung und Beratung der Kunden.
«Also eigentlich alles, was unser tägliches Geschäft ausmacht», so Stäheli. In den Lehrateliers werden bis zu 20 Auszubildende unterrichtet, ähnlich einer Schulklasse. Am Ende der dreijährigen Ausbildung haben sie so zwar verschiedene Nähtechniken gelernt, aber noch keinerlei Erfahrung im täglichen Geschäft sammeln können.
Der Druck, den das Gewerbe erfährt und die Realität des Arbeitsmarktes fehlen gänzlich. So fehlt auch das Wissen über die Auftragslage und das daraus Folgende: weniger Aufträge, weniger Einkommen, weniger finanzielle Mittel für die Unterstützung eines Lernenden.
Das Interesse am Beruf ist nach wie vor da
Der Kanton Thurgau führt noch bis im Sommer 2023 ein Lehratelier in Kreuzlingen. Finanziert wird dieses gänzlich durch den Kanton. Einen Lohn erhalten die Lernenden nicht. In den letzten zwei Jahren gab es im Thurgau je vier Lernende.
Damit der Berufsschulunterricht überhaupt noch geführt werden kann, mussten zwei Klassen zusammengelegt werden. Und dennoch: Das Interesse am Beruf sei nicht das Problem, betont Stäheli.
Sie bietet bis heute Schnupperstellen in ihrem Atelier am Rennweg 9 in Amriswil an und erfährt so, dass es durchaus genügend Schulabgängerinnen und im Übrigen auch Schulabgänger gibt, welche den Beruf gerne erlernen möchten.
Und auch während der ganzen 15 Jahre, in welchen sie Ausbildungsplätze angeboten hat, kamen stets mehr als genug Bewerbungen an.
Die Lernenden konnten spezifische Techniken lernen
Claudia Stäheli ist Präsidentin des Schweizerischen Modegewerbeverbandes. Zu dessen 100-Jahre-Jubiläum wurde die Mode von damals, zu Zeiten der Verbandsgründung, und jene von heute einander gegenübergestellt.
Für die Realisation von fünf Modellen für die Jubiläumsausstellung wurden Lernende aus dem Lehratelier «ausgeliehen». Während dieses Projektes konnten die Auszubildenden bei «la vie en rose» arbeiten und lernten weitere spezifischere Techniken.
So zum Beispiel das Vernähen von Spitze, ohne dass eine Naht sichtbar bleibt. Um Spezifikation gehe es allgemein in ihrem Berufsfeld, erklärt auch Seraphiene Benz. Sie war damals die letzte Auszubildende im «la vie en rose» und konnte nach ihrem Abschluss im Teilzeitpensum weiter für Claudia Stäheli arbeiten.
50 Prozent sind Angestellte und 50 Prozent sind Selbstständig
Heute ist sie noch 50 Prozent angestellt und füllt die anderen 50 Prozent mit ihrer Selbstständigkeit im Couture Atelier «vonmirzudir». «Ich habe mich auf die Brautmode spezialisiert», sagt sie.
Während Livia Fierz im Ladengeschäft neue Kleider anbietet, schneidert Benz ihren Kundinnen unter gleichem Dach ihr Traumkleid auf den Leib oder ändert die bei Fierz gekauften Kleider.
Sowohl Benz als auch Stäheli nähen Haute Couture, was die gehobene Schneiderkunst bezeichnet. Um finanziell mit der wachsenden Konkurrenz, aber auch dem schnellen Wandel in der Modebranche mithalten zu können, nähen sie auch rationell.
Die Techniken der Industrie müssen übernommen werden
«Überleben können wir nur noch mit der Einstellung, individuell in der Massmode zu sein und gleichzeitig zu wissen, wo man die Technik der Haute Couture mit der rationellen Technik vermischen kann», so Stäheli.
«Genau. Um existieren zu können, müssen wir jene Techniken, die in der Industrie so gut funktionieren, ebenfalls beherrschen, ohne dabei je unsere Leidenschaft und die Individualität zu verlieren», ergänzt Benz. Denn bis heute ist es das traditionelle Handwerk, das den Beruf und das Angebot attraktiv macht.
Gerade weil in den Bekleidungsateliers mit Techniken gearbeitet wird, die in der Industrie und der Konfektionsmode nicht zu finden sind, kann die Kundin sowohl bei Seraphiene Benz als auch bei Claudia Stäheli sicher sein, ein Unikat zu bekommen, das im Stil zeitlos und einzigartig ist. «Und genau das ist unser Trumpf, auf den wir setzen müssen», so Stäheli.
Das Verschwinden des Berufes soll verhindert werden
Das Nähen macht im Berufsalltag der Bekleidungsgestalterin nur einen Teil aus. Beratungen, Abmessung, Schnittmuster herstellen, Stoffauswahl, Farb- und Typberatung, Design – das alles gehört zum Alltag.
Vieles von dem wird in den Lehrateliers vernachlässigt. Mit der Schliessung des Lehrateliers in Kreuzlingen schien der Beruf zu verschwinden. Etwas, das Stäheli und Benz verhindern möchten.
Damit die neue Lösung nicht auf den Problemen der früheren Ausbildung aufgebaut wird, also nicht die einzelnen Ateliers je einen Lernenden aufnehmen und wiederum vor finanziellen Herausforderungen stehen, gründeten die beiden Frauen einen reinen Ausbildungsbetrieb, welcher als eigenständiges Unternehmen in das Couture Atelier «la vie en rose» integriert wird.
Künftig werden Auszubildende im Thurgau unter der Flagge des «Ausbildungsbetriebes Couture Atelier PURE» ihre dreijährige Lehre absolvieren.
Umso mehr Ateliers sich beteiligen, umso besser ist es für die Lernenden
Die Idee: Die Lernenden erhalten die praktische Ausbildung zu zwei Dritteln bei PURE und zu einem Drittel bei Verbundpartnern, also in verschiedenen Ateliers. Bis jetzt sind die Ateliers «la vie en rose» und «vonmirzudir» von Stäheli und Benz sowie das Atelier «prince de gall» in Lichtensteig als Partner dabei.
Die Kosten für die überbetrieblichen Kurse übernimmt der Verein. Die Ateliers bezahlen den Lernenden je zu einem Drittel die Löhne und kommen für das Arbeitsmaterial auf, das der oder die Auszubildende benötigt.
Die Berufsbildner werden also die Lernenden dann bei sich im Atelier beschäftigen, wenn gerade eine Arbeit ansteht, welche lehrreich ist. «Das können einige Wochen oder aber auch mal vier Monate sein», erklärt Stäheli. Also je nach Auftragsstand.
Je mehr Ateliers sich an PURE beteiligen, desto besser für die Lernenden, aber auch für die Ateliers. Finanziert wird PURE über den Trägerverein. «Bisher unterstützen uns ausschliesslich Privatmitglieder», erklärt Stäheli.
Auch Spenden oder Patenschaften sind willkommen
Möglich und willkommen sind aber natürlich auch Spenden von Firmen, die zum Teil bereits am Vorstellungsevent zu Gast waren. «Es wäre zum Beispiel auch möglich, dass jemand oder ein Unternehmen eine Patenschaft für einen der Auszubildenden übernimmt und so die Kosten für einen Ausbildungsplatz übernimmt», erklärt Benz.
Aufträge für die Lernenden, die offiziell erst im Sommer 2023 bei PURE starten, gibt es schon einige. An der Modeschau, die in Form des Vorstellungs-Events kürzlich im Pentorama stattgefunden hat, zeigten Stäheli und Benz Kleider, die in Zusammenarbeit mit Lernenden entstanden sind und informierten über den neuen Trägerverein.
Das Interesse war gross, was sich auch in den Aufträgen widerspiegelt. «Wir haben bereits Aufträge von Kundinnen, die bereits in Zusammenarbeit mit Lernenden ausgeführt werden», so Stäheli.
Seraphiene Benz und Claudia Stäheli sind in den Startlöchern und ready für den Beginn von PURE. Früher als geplant. Sobald alles in trockenen Tüchern ist, fällt der Startschuss und in Amriswil können neue Ausbildungsplätze angeboten werden.