Wie wir lernten, Empathie zu hassen und Grausamkeit zu lieben. Eine Kolumne von Marko Kovic.
Elon Musk
Die US-Regierung würdigt Elon Musks Einsatz zur Reduzierung von Ausgaben. (Archivbild) - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Der bekannte Sozialwissenschaftler Marko Kovic schreibt regelmässig Kolumnen auf Nau.ch.
  • Heute schreibt er über die Spitze eines kulturellen Wandels, der vor Jahrzehnten begann.
Ad

«Empathie ist eine Schwäche.» Das sagt nicht irgendwer. Das sagt Elon Musk, der reichste Mensch der Welt.

In einem Auftritt beim Podcaster Joe Rogan erklärte Musk, Empathie sei die «fundamentale Schwäche der westlichen Zivilisation».

Dass Musk die Fähigkeit, zu verstehen, was die Gedanken und Empfindungen anderer Menschen sind, als Schwäche erachtet, ist keine Überraschung.

Marko Kovic spricht über Elon Musk und seinen Kampf gegen die Empathie. - Marko Kovic

Musk zieht regelmässig über seine eigenen Kinder und über Frauen, mit denen er Kinder gezeugt hat, öffentlich her.

Musk hat mindestens eine Frau, die er schwängern wollte, auf X (ehemals Twitter) kontaktiert – und sie mit weniger Reichweite auf der Plattform bestraft, weil sie abgelehnt hat.

Ganz zu schweigen von Musks politischem Engagement mit «DOGE»: Musk hat massgeblich dazu beigetragen, das weltweit grösste staatliche Programm für Entwicklungszusammenarbeit USAID zu zerstören.

Marko Kovic
Marko Kovic schreibt auf Nau.ch Kolumnen. - zvg

Menschen in armen Ländern zu helfen, sich nicht mit HIV anzustecken oder HIV zu therapieren, ist offenbar eine Schwäche.

Musk ist heute aber nicht die Ausnahme. Er ist nur die fieberhafte Spitze eines kulturellen Wandels, der vor Jahrzehnten begann.

Der Weg in die Brutalisierung

Es war lange Zeit relativ unumstritten, Kindern prosoziales Verhalten beizubringen.

Man soll nicht egoistisch sein, sondern teilen. Man soll sich über Kinder, denen es schlecht geht, nicht lustig machen, sondern ihnen helfen. Ganz grundlegende moralische Pfeiler. Doch diese Pfeiler gerieten bereits in den 1980er-Jahren ins Wanken.

Die konservative britische Premierministerin Maggie Thatcher verkündete 1987 in einem berühmten Diktum: So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Es gebe nur Männer, Frauen und Familien. Es sei nicht die Rolle der Regierung, deren Probleme zu lösen. Jeder müsse für sich schauen.

Thatcher war eine der wichtigsten ideologischen Figuren des sogenannten Neoliberalismus.

Zusammen mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan läutete sie im Namen der Freiheit eine Ära der Eigenverantwortung und der Individualisierung ein.

Kollektive Massnahmen, um das Leben aller Menschen etwas zu verbessern, sollten passé sein.

Jeder schaut für sich

An ihre Stelle trat Meritokratie: Jeder kann es schaffen – wer es nicht schafft, ist selbst schuld. Jeder schaut für sich.

Im Zuge dieser neoliberalen Revolution erodiert das sogenannte Sozialkapital. Seit den 1980er-Jahren haben Menschen nicht mehr gleich viele und gleich starke soziale Beziehungen.

Wir sind weniger in Vereinen, weniger in der Kirche, engagieren uns weniger gemeinnützig, nehmen weniger lokale politische Ämter an. Diese Entwicklung sehen wir weltweit, auch in der Schweiz. Jeder schaut für sich.

Der populistische Schleudergang

Nach der Jahrtausendwende beschleunigt sich dieser Zerfall dank des wachsenden politischen Populismus rasant.

Viele Menschen haben von den ökonomischen Zerwürfnissen der letzten Jahrzehnte nicht profitiert.

Alle wollen dich übers Ohr hauen

Politische Populisten, die selbst zu den Reichen und Reichsten gehören, greifen die Sorgen dieser Globalisierungsverlierer auf – und sagen, dass in Wahrheit «die anderen» Schuld sind.

«Die anderen» sind wahlweise Ausländer, Sozialschmarotzer, Scheininvalide, faule Staatsangestellte, LGBTQ-Angehörige, Juden, Feministinnen oder eine Kombination davon.

Schaust du nur auf dich?

Das permanente Säen einer diffusen Wut gegen «die anderen» ist der rhetorische Kern von Populismus. Alle um dich herum sind Betrüger und Schmarotzer. Alle wollen dich übers Ohr hauen. Misstraue allen. Gönne niemandem etwas.

Oder anders ausgedrückt: Jeder schaut für sich.

Wall Street Trump
US-Präsident Donald Trump. - keystone

Mitte der 2010er-Jahre explodierte dieses populistisch kultivierte Misstrauen. Nicht zuletzt dank Social Media, wo Menschen einen grossen Zacken enthemmter als im physischen Leben sind.

Der Hass auf Empathie wird heute genauso zelebriert wie die Liebe für Grausamkeit gegenüber Menschen, die nicht zur eigenen «Ingroup», zum eigenen ideologischen oder ethnischen Team gehören.

Die alte Karikatur des «Gutmenschen» wird nicht nur wiederbelebt, sondern ins komplett Absurde verdreht. Wer sich heute auch nur ansatzweise Gedanken darüber macht, wie Leid in der Welt reduziert werden kann – etwas, was man früher selbstverständlich kleinen Kindern als moralisches Ziel beibrachte – wird heute als «moralistisch» und «woke» abgetan.

Moralisch relevant ist nur eigene Familie

Ein aktuelles Beispiel dafür ist eine moralpsychologische Studie von 2019: In der Studie wird untersucht, ob politische Ideologie einen Einfluss darauf hat, welche Gruppen oder Wesen Menschen als moralisch wichtig erachten.

Das Ergebnis: Rechtskonservative Menschen erachten tendenziell nur ihre Familie als moralisch relevant. Während linksliberale Menschen ihren moralischen Kreis viel weiter ziehen – und auch Menschen in anderen Ländern und Tiere als moralisch relevant erachten.

Die Grafik mit dem Befund ging in rechtskonservativen Kreisen vor einigen Monaten viral.

Der hämische Beweis

Nicht als Anstoss zum Überdenken des eigenen moralischen Kompasses. Nein, im Gegenteil: Als hämischer vermeintlicher «Beweis», dass mit Menschen, denen andere Menschen auf der Welt nicht egal sind, etwas nicht stimmt.

Zum Beispiel postete der milliardenschwere Silicon-Valley-Investor und Trump-Unterstützer Marc Andreessen die Grafik unlängst als Meme, um sich über das Argument lustig zu machen, dass man Menschen grundsätzlich auch dann helfen sollte, wenn man sie nicht persönlich kennt.

Über eine Million Menschen sahen das; mehrere Tausend bedankten sich mit einem Like.

Barbarei

Wir leben in der Zeit eines grossen «Vibe Shifts». Die politische Kultur und damit der gesellschaftliche moralische Kompass haben sich grundsätzlich verändert.

Es ist en vogue, egozentrisch und grausam zu sein.

Es ist verweichlicht und «woke», sich für mehr als nur für sich selbst und vielleicht noch für die eigene Familie zu interessieren. Nächstenliebe ist ein Schimpfwort.

Es ist egal, wie viel Leid andere erfahren, solange es einem selbst gut geht. Jeder schaut für sich. Das ist die Formel, mit der gesellschaftliche Psychopathie normalisiert wird.

Homo Homini Lupus, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, im populistischen Social-Media-Endstadium.

Erwarte von allen das Schlimmste und sei darum präventiv schlimm zu allen.

Tesla Protest
Es gibt auch Proteste gegen Musk. - keystone

Aber die Elon Musks der Welt, die bei diesem Krieg gegen Empathie federführend sind, verstehen nicht, dass sie uns damit alle in den Abgrund reissen.

Es ist nicht «Gutmenschentum», nach einer Gesellschaft zu streben, in der möglichst viele Menschen möglichst lebenswerte Leben leben können. Es ist schlicht rational. Empathie, Nächstenliebe, Vertrauen und Kooperation sind der Kitt zivilisatorischen Fortschritts.

Einzelnes Land kann Welt nicht retten

Die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte waren Momente, in denen wir moralische Zirkel enger zogen und Menschen der «Outgroup» entmenschlichten und dämonisierten. Die hellsten Kapitel unserer Geschichte waren Momente, in denen wir unseren moralischen Kompass in die umgekehrte Richtung kalibrierten.

Die Realität ist natürlich auch unter den Vorzeichen von Empathie immer von Kompromissen geprägt. Ein einzelnes Land kann nie die ganze Welt retten. Materielle und psychologische Ressourcen sind limitiert; wir haben nicht unendlich Geld und können uns nicht unendlich Sorgen machen. Darum geht es aber nicht.

Es geht um die Frage, ob wir ganz grundsätzlich eine Gesellschaft wollen, in der jeder nur für sich schaut, oder eine Gesellschaft, in der wir auch zueinander schauen.

Marko Kovic
Sozialpsychologe Marko Kovic. - kovic.ch

Wie gut geht es den Schwächsten?

Wir können die Welt nicht retten. Aber wenn es allen Menschen auf der Welt egal ist, was mit der Welt passiert, geht sie zugrunde.

Das, was die Populisten vom Schlage Elon Musks predigen, ist falsch. Denn: Empathie ist nicht unsere Schwäche, sondern unsere grösste Stärke.

Der moralische Status einer Gesellschaft bemisst sich nicht daran, wie gut es den Reichsten und Mächtigsten geht, sondern daran, wie gut es den Schwächsten geht.

Zum Autor: Marko Kovic ist Gesellschaftskritiker. Er interessiert sich für gesellschaftlichen Wandel und die Frage, ob wir noch zu retten sind. Er lebt in Uzwil SG.

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

PopulismusRegierungKolumneStudieLiebeHassWolfHIVElon MuskKrieg