Unser Gastautor denkt, dass uns die Öffnung langsam angehen soll und dass uns etwas Durchhaltewillen nicht umbringt.
Reda El Arbi
Gastautor bei Nau.ch: Reda El Arbi. - Nau.ch

Das Wichtigste in Kürze

  • Nau.ch-Kolumnist Reda El Arbi erklärt die linksgrünversiffte Welt.
  • Reda El Arbi erlangte als Blogger beim «Tagesanzeiger» Bekanntheit.
  • Bis 2011 war er Chefredaktor des Satiremagazins «Hauptstadt».
  • Er lebt mit Frau und Hund in Stein am Rhein SH.
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«Du, in deiner privilegierten Situation hast gut reden», wird mir oft entgegengebracht, wenn ich mich für eine sehr vorsichtige Öffnung der Wirtschaft und des Lockdowns äussere. Und natürlich bin ich privilegiert. Ich bin mit der besten Ehefrau von allen in einer angenehm grossen Wohnung gelockdowned, meine zwei Hunde und mein Kater runden das Ganze ab.

Aber auch ich habe zur Zeit ca 60 - 80 Prozent Erwerbsausfall und kann als Selbständiger ohne Systemrelevanz gerade mal Kredite aufnehmen, die mich verschulden würden. Viele meiner Aufträge sind sistiert, viele für das laufende Jahr auf der Kippe.

Natürlich hab ich den meisten Leuten gegenüber einen Vorteil. Aber das ist nicht meine jetzige Lebenssituation, sondern - ironischerweise, - die schlimmste Zeit meines Lebens. Meine überwundene Heroinsucht macht es mir einfach leichter, mit existenziellen Ängsten umzugehen.

Drogenszene Letten
Die Drogenszene am ehemaligen Bahnhof Letten in Zürich, aufgenommen im August 1994. Der Letten, Nachfolger der offenen Szene auf dem Platzspitzareal, wurde in Spitzenzeiten von über tausend Drogenkonsumenten frequentiert. - Keystone

Ich habe bereits mehrmals alles verloren und wieder neu aufbauen müssen. Ich war unfrei in einem Masse, wie es sich die meisten Menschen nicht mal vorstellen können. Ob die Unfreiheit durch die Sucht, oder aber die Unfreiheit der drei Monate Einzelhaft, ich war in schlimmeren Situationen als heute, was es für mich darum leichter macht, eine Relation für die augenblicklichen Einschränkungen zu finden.

Natürlich habe ich Angst vor der Zukunft. Es könnte mich meine Wohnung kosten, meine frisch gegründete Firma könnte direkt von der Geburt in Konkurs gehen. Das wäre schlimm. Aber eben, die schlimmsten Tage heute sind für mich noch immer besser als die besten Tage damals.

Früher hab ich auf Stress mit Aggression reagiert. Ich musste jemandem die Schuld dafür geben, dass es so ist, wie es ist. Auch wenn ich damals selbst verantwortlich war. Jetzt ist die Situation etwas anders, aber auch heute trägt niemand anders die Schuld an diesem Virus, auch wenn es angenehm wäre, jemanden dafür zu verfluchen. Wenn wir ehrlich sind, hat nicht nur niemand Schuld, auch niemand kann das Virus wirklich kontrollieren. Wir sind ausgeliefert, wir haben keine Wahl.

Virus Outbreak Trump
US-Präsident Donald Trump beschuldigt immer wieder China für die Ausbreitung des Coronavirus. - keystone

Die einzige Wahl, die wir haben, ist, wie wir mit der Situation umgehen. Mir persönlich hilft es, wenn ich über mein persönliches Drama und Ungemach hinausblicke und mich nicht mehr als Opfer sehe, sondern als Teil einer Gemeinschaft, die eine schwierige Situation gemeinsam angeht. Einen Tag nach dem anderen. Einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen. Und jeder hilft denen, denen es noch schlechter geht. Dann ist allen geholfen.

Ich würde ja gerne behaupten, mein Weg aus der Sucht sei eine dieser Heldengeschichten, in der ich mir charakterstark und mit dem Willen eines Herkules den Weg in die Gesellschaft zurück erkämpft hätte. Nur wär das eine Lüge. Ich hab das nur mit viel Hilfe aus der Gemeinschaft geschafft. Indem ich diese Hilfe annahm. Indem ich immer nur die Sorgen des anstehenden Tages anging, denn die Fehler von gestern konnte ich nicht ändern, und die Probleme von morgen nicht lösen. Und was mich stärker machte war, dass ich auf dem Weg Leuten helfen konnte, denen es schlechter ging als mir.

Coronavirus
Die Schweiz wird auch nach Abflachung der Coronavirus-Kurve die Krise noch länger spüren. - keystone

Und wenn jemand wie ich es mit Hilfe der Gemeinschaft aus der Sucht geschafft hat, wieder auf die Beine kam, hab ich auch Vertrauen darauf, dass wir es gemeinsam als Gesellschaft schaffen, diese Krise gut zu überstehen und auch die nicht abhängen, die gerade am meisten darunter leiden.

Und das, ohne dass wir die Leben der Alten und Schwachen grossen Risiken aussetzen. Denn eines ist klar: Die Zukunft wird nicht die Normalität der Vergangenheit sein. Und die neue Normalität erfordert soziales Denken.

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