Daniel Koch: Wie die Aids-Krise die LGBTQ-Rechte stärkte

Das Wichtigste in Kürze
- Daniel Koch war zwischen 2008 und 2020 BAG-Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten.
- Auf Nau.ch schreibt Koch regelmässig Kolumnen, diesmal über die Aids-Hilfe Schweiz.
- Die Aids-Krise sei auch ein LGBTQ-Moment der Stärke gewesen.
Der Rückblick auf die Erfolgsgeschichte der Aids-Hilfe Schweiz nach 40 Jahren ist ein guter Grund, um zu feiern. Auch wenn der Ursprung dieser Organisation auf einer grossen Gesundheitskatastrophe beruht.
Der Beginn der weltweiten HIV-Epidemie war an Schrecken und traurigen Schicksalen kaum zu überbieten.

Krebsarten und Infektionen
Es begann 1981 in den USA, als auffiel, dass immer mehr homosexuelle Männer an seltenen Krebsarten und Infektionen litten. Viele verstarben ohne Heilungschancen in kurzer Zeit – und im besten Alter.
1983 wurde das Virus identifiziert, weltweit wurden immer mehr Fälle nachgewiesen. 1984 war schon bekannt, dass das Virus aus Afrika stammte. Und dort bereits seit Jahrzehnten unbemerkt zirkulierte.

Auch klar war seit dem Beginn, dass es sich um eine Infektion handelte, welche durch sexuelle Kontakte und Blut übertragen wurde.
Obwohl seit dem Beginn der Epidemie bekannt war, dass der Gebrauch von Kondomen wirksam vor der Ansteckung mit dem HIV Virus schützte, gab es kaum Informationen und Empfehlungen.
Menschenverachtender Massnahmenkatalog in Bayern
Da die Krankheit in der Hochrisikogruppe der homosexuellen Männer entdeckt wurde, reagierte die Welt zuerst mit Ausgrenzung und Stigmatisierung. Es ist das grosse Verdienst der Aids-Hilfe Schweiz, dass sie schon bei ihrer Gründung 1985 auf Empathie mit den Betroffenen und auf die Prävention mit Kondomen setzte.
Das war keine Selbstverständlichkeit. Denn: Noch 1987 beschloss die Bayrische Regierung unter der Führung von Franz Josef Strauss einen menschenverachtenden Massnahmenkatalog.
Prostituierte, Junkies und Schwule im Fokus
Ansteckungsverdächtige konnten zur Durchführung des HIV-Tests vorgeladen werden. Und die Gesundheitsbehörde konnte die Aufenthaltsermittlung und Vorführung durch die Polizei veranlassen.
Als ansteckungsverdächtig galten Prostituierte, Junkies und Schwule.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Horst Seehofer wurde damals im «Spiegel» mit dem Plan zitiert, Infizierte in «speziellen Heimen» zu «konzentrieren».
Aber auch auf der internationalen Bühne kamen die Bemühungen nur schleppend voran.
Mediziner Jonathan Max als zentrale Figur
Die Persönlichkeit, die dabei hervorsticht, war der amerikanische Mediziner Jonathan Max Mann, der 1986 in der WHO das «Global Programme for Aids» gründete.
1990 verliess er das Programm, da die UN-Organisationen zu wenig für die Bekämpfung der weltweiten Katastrophe unternahmen.
Erst sechs Jahre später wurde UNAIDS erschaffen, um die Bemühungen von elf UN Organisationen zu bündeln. Jonathan Mann kam 1998 beim Absturz des Swissair-Fluges 111 in Halifax ums Leben.

Antivirale Medikamente helfen
Der medizinische Durchbruch kam, nicht wie zu Beginn erhofft mit einem Impfstoff, sondern mit der Entdeckung antiviraler Medikamente.
Die Therapie wurde 1996 am elften AIDS Kongress in Vancouver vorgestellt und seither wurde sie immer weiterentwickelt.
Die modernen Kombinationstherapien unterdrücken die Verbreitung der HIV-Viren im Körper so stark, dass die Krankheit Aids nicht mehr ausbricht.
«Swiss Statement» der EKAF
Dank Studien der schweizerischen HIV-Kohorte konnte sogar nachgewiesen werden, dass eine erfolgreich durchgeführte Therapie auch die Übertragung des Virus verhindert.
Daher hat 2008 die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) zusammen mit dem BAG, als erste Behörde weltweit diese Erkenntnis anerkannt. Und damit Menschen mit HIV, unter permanenter Behandlung, von der ständigen Angst befreit, sie könnten das Virus weitergeben.
Dieses sogenannte «Swiss Statement» der EKAF unter dem Präsidium von Professor Pietro Vernazza hat hohe Wellen geschlagen.
Behandlung als vorbeugende Massnahme
Heute ist diese wissenschaftliche Erkenntnis ein Grundprinzip der WHO: Menschen mit HIV unter erfolgreicher Therapie geben das Virus nicht weiter. Auch nicht beim Sex ohne Kondom.
Das Prinzip: «Therapie as Prevention» (Behandlung als vorbeugende Massnahme) wurde geboren. Es gibt auch HIV-infizierten Mütter die Hoffnung, dass ihre Kinder ohne das Virus geboren werden.
Trotzdem ist die Aids-Pandemie noch lange nicht unter Kontrolle. Da viele HIV-Infektionen immer noch zu spät entdeckt werden und nicht alle bekannten Fälle die notwendige Therapie erhalten, tötet das Virus immer noch jährlich tausende von Menschen. Vor allem in Afrika.
Politischen Strömungen spielen eine Rolle
Laut UNAIDS starben im Jahr 2023 weltweit rund 630'000 Menschen an den Folgen einer Aids-Erkrankung.
Es ist zu befürchten, dass diese Zahl in den nächsten Jahren wieder ansteigt. Die stetigen Kürzungen in der Entwicklungshilfe und der Zusammenbruch der USAID (der grössten Entwicklungsorganisation weltweit) hat zur Folge, dass Programme zur Testung und Therapie von HIV-Infizierten eingestellt wurden.
Ja, es spielt eine Rolle, welche politischen Strömungen die Welt beherrschen.

Es ist ein grosser Unterschied, ob Nationalismus, Machtpolitik und Reichtums Vermehrung der Superreichen, die Welt regieren, oder ob Solidarität, Zusammenarbeit und Hilfeleistungen das angestrebte Ziel sind.
Auch im Umgang mit Gesundheitskatastrophen ist es schlussendlich entscheidend, in welchem Geist Entscheidungen und Massnahmen getroffen werden.
Jonathan Mann hat immer wieder folgende Aussage gemacht: «In den ersten Jahren der HIV-Epidemien führte die reflexartige Reaktion verschiedener Gesundheitsbeamter, sich auf obligatorische Tests, Quarantäne und Isolation zu berufen, zu einem grossen Konflikt mit dem Schutz der Menschenrechte. Bei der Gestaltung und Umsetzung der Gesundheitspolitik gibt es Menschenrechtsverletzungen zum Nachteil der Gesundheit.»
Die erfolgreiche Geschichte der Aids-Hilfe Schweiz zeigt, dass die Bewältigung einer Gesundheitskatastrophe sehr wohl die Grundrechte von Minderheiten, wie der LGBTQ-Bevölkerung, stärken kann.
Aber auch nur dann, wenn man das Problem benennt. Und die Diskriminierung bekämpft.
Zum Autor: Daniel Koch war zwischen 2008 und 2020 Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Er ist der Öffentlichkeit als «Mister Corona» bekannt und schreibt regelmässig Kolumnen auf Nau.ch. Koch lebt im Kanton Bern. Im Juni erscheint sein Buch «Im Auge der Krisen».