Ein Lederwarengeschäft als Insel für queere Menschen im Film «Quir»

In Palermo auf Sizilien gibt es ein Lederwarengeschäft, das der Treffpunkt der örtlichen LGBTQI+-Szene ist. Hier, wo bis heute der Machismo regiert, tauschen sich queere Menschen über ihre Sorgen und Nöte aus und leben ihren Alltag. Das zeigt der charmante Dokumentarfilm «Quir».
«Ein Mann, der einen Rock anzieht, zerstört ein Universum. Er gibt ein Privileg auf.» Solche Sätze fallen in «Quir». Der Dokumentarfilm von Nicola Bellucci hat an den Solothurner Filmtagen im Januar den Publikumspreis gewonnen und startet jetzt (08. Mai) in den Deutschschweizer Kinos.
Der gebürtige Italiener Bellucci, der seit vielen Jahren in Basel lebt und arbeitet, erzählt von einem kleinen Lederwarengeschäft mitten in Palermo. Geführt wird es von Massimo und Gino. Die beiden sind seit über vier Jahrzehnten ein Paar und ihr Laden wie auch sie selber sind das Zentrum der lokalen LGBTQI+-Szene.
Es wird diskutiert und debattiert, es werden Ratschläge erteilt und es wird sich über die besonderen Herausforderungen ausgetauscht, mit denen queere Menschen in Süditalien konfrontiert sind – eine Gegend, die bis heute stark durch ein traditionelles Rollenverständnis und Machismus geprägt ist. Eine Gegend eben, in der Männer, die einen Rock anziehen, ein Universum zerstören.
Lederwarengeschäft als Zufluchtsort für die queere Community
Neben Gino und Massimo tragen drei weitere Personen den Film: Ernesto, eine Drag-Queen-Sängerin und ein Performer, der seine Mutter in ihrem Haus bis zu ihrem Tod pflegt. Oder Vivian, die täglich mit der Transphobie der Menschen in der Stadt konfrontiert wird. Schliesslich Charly, der über 90-Jährige, der in den 60er-Jahren ein grosser Name in Hollywood war und in Kontakt stand mit Stars wie Marilyn Monroe oder John Cassavetes.
Charly lebt in seiner Vergangenheit und trauert diesen Zeiten und seinem jugendlichen Körper nach. Und dann ist da noch die Stadt Palermo. Sie ist viel mehr als eine Kulisse. Sie fühlt sich an wie eine handelnde Figur.
«Quir» behandelt gewichtige Themen und ist dabei erstaunlich leicht. Trotz Schwierigkeiten und Ängsten, Unsicherheiten und Diskriminierung, haben sich die Menschen, die im Geschäft von Massimo und Gino vorbeischauen, Witz und Kraft erhalten. Sie gehen die Geschlechterfrage mit Freude an.
In seinem Dokfilm gelingt es dem Regisseur mit seiner Kamera, einfach nur da zu sein, zu zeigen, was ist. Die Szenen fügen sich organisch aneinander, nichts wirkt bemüht oder gewollt. Obwohl die Kamera in solchen Konstellationen immer auch etwas mit den Darstellenden macht, bleiben sie in «Quir» wahrhaftig und authentisch.
Selbstbestimmtes Lebens der queeren Community
Gino, Massimo, Ernesto, Vivian und Charly sind weder Opfer noch Helden; sie sind Menschen, die ihren Alltag meistern und dabei viel von sich preisgeben. Der Regisseur hat das Lederwarengeschäft in einem Text zum Film denn auch als «eine Art Beichtstuhl oder eine Notaufnahme für hilfsbedürftige Seelen» bezeichnet. «Quir» zeigt eindrücklich: Es geht darum, ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Neben allen Auseinandersetzungen um politisch Relevantes und persönlich Belastendes, lässt der Film Raum auch für Profanes wie Gesundheitstipps. Das Kinopublikum erfährt dank Charly, wies es ohne Chemie oder irgendwelche Eingriffe gelingt, bis ins hohe Alter Augenringe zu verhindern.*
*Dieser Text von Raphael Amstutz, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.