Berner Regisseurin inszeniert «Matterhorn Story» neu

«Ds Läbe isch nid hüt oder more. Ds Läbe isch immer numä jetz», sagt die blinde Marie gegen Ende des Stücks zu Barbara, der Freundin von Peter Taugwalders Sohn, die einfach nicht vergessen kann, was geschehen ist.
Eine oft gehörte Wahrheit, selten aber so eindrücklich und eingängig erlebt wie bei der Premiere auf dem Riffelberg.
Die atemberaubende Kulisse auf 2600 Metern Höhe, dieser spezielle Berg, die Ruhe, die beiden Murmeli, die unweit der Bühne über die Ebene springen, die untergehende Sonne, die mit ihrem warmen Licht der ganzen Szenerie eine fast mystische Atmosphäre gibt: «Ds Liecht müess vo innena cho, denn chunnts öi wieder vo üssena », fährt Marie fort. Ein weiterer Gänsehautmoment.
Wenn eine Geschichte, dann diese! «Wenn eine Geschichte nochmals hier aufgeführt werden soll, dann diese», schreibt Autorin und Co-Regisseurin Livia Anne Richard im Programmheft und erzählt sie zehn Jahre nach der Uraufführung neu. Die Frauen hat sie stärker ins Zentrum gerückt, insbesondere kam der neue Charakter der blinden Marie dazu.
«Diese Figur ist historisch nicht überliefert, hingegen die Tatsache, dass insbesondere die Frauen damals vehement vor der überstürzten Erstbesteigung des Matterhorns gewarnt hatten.
Auch wissen wir, dass die Menschen der damaligen Zeit abergläubisch waren und an Zeichen glaubten. Der Aufstiegs-Beginn an einem 13. wurde deshalb lautstark kritisiert.»
Improvisationstalent am Klavier Ebenfalls neu ist die musikalische Live-Begleitung durch einen Pianisten. Immer dann, wenn Worte nicht mehr ausreichen, übernimmt er das Unausgesprochene.
Pianist Elia Gasser improvisiert live. Feinfühlig und jeden Abend anders. «Er hat sich das Klavierspielen selbst beigebracht», sagt mir Livia Anne Richard, die auch seine Mutter ist. Öffentlich gemacht hat sie das im Vorfeld bewusst nicht.
«Ich wusste, dass sein Spiel das Stück tragen kann. Nicht, weil er mein Sohn ist, sondern weil er wirklich begabt ist.» Tatsächlich nimmt man ihn als Teil des Stückes wahr, als musikalischen Übersetzer und Ergänzer.
Bei den Szenenübergängen sieht er sich selbst als «unsichtbare Hand, die Raum und Zeit umblättert, ohne dass es knistert», wie er im Programmheft schreibt, und mit dieser Formulierung genau ins Schwarze trifft.
Nach wie vor aktuell 160 Jahre nach dem Unglück wirkt die Geschichte aktueller denn je. Vordergründig geht es um die Erstbesteigung am Matterhorn, hintergründig um die grossen Themen des Lebens: Habgier und Neid, Überheblichkeit und Selbstüberschätzung, Liebe und Hass. Und es geht um das Vergeben und das Weiterleben nach einem Schicksalsschlag.
Symbolisch steht der Berg auch für unsere Träume und Ziele, die wir im Leben erreichen wollen. Manchmal klappt es, oft auch nicht. Fallen, aufstehen, es nochmals wagen? Themen also, die universell und deshalb wohl so lange aktuell sein werden, wie es Menschen gibt.

Inmitten all dieser Dramen gelingt es Livia Anne Richard mit gewohnt feinfühligem Humor auch immer wieder, für ein Schmunzeln im Publikum zu sorgen.
Etwa, als Bergführer Elmar erklärt, man habe die Überreste der toten Männer am Berg dem ewigen Eis übergeben und ihnen ein gemeinsames Schneegrab geschaufelt. Worauf der Pfarrer entsetzt reagiert: «Iehr chennt doch nid Mitglieder vo der Anglikanische Chirche zäme mit em e Katholik in es Gmeinschaftsgrab legga!»
Hautnah dabei Die Regisseurinnen Livia Anne Richard und Lilian Naef lassen das Publikum nicht nur zusehen, sie nehmen es mit. Man wird Teil des Geschehens. Kaum ein Husten, kaum ein Tuscheln war während der Aufführung zu hören, nur völlige Gebanntheit für all das, was die Szenerie für Augen und Ohren zu bieten hat.
Und die Aussagen der Schauspieler verfehlten ihre Wirkung nicht. Etwa, wenn die Alten zu bedenken gaben: «Mir hei nüt gäge Fortschritt, aber dr Mänsch müess wissä, wenns gnüeg isch.»
Oder auch die Vorhersage der blinden Marie: «Ja, Zermatt wird grad berüehmts. Vili wärdet cho und wellend dr Bärg geseh – und eines Tages wird me schich de villicht fräge, ab wänns zu vili sind.» Ist es nicht genau diese Diskussion, die angesichts des zunehmenden Massentourismus momentan weltweit geführt wird?
Klar ist hingegen auch, dass nichts so fasziniert, wie ein Unglück. Oder, um es mit den Worten des damaligen Zermatter Hoteliers Alexander Seiler, auszudrücken: «Das Unglück isch z’Beschta, wo Zermatt het chönnä passiere!» Tatsächlich sorgte es weltweit für Aufsehen, war der eigentliche Urknall des Zermatter Tourismus und brachte den damals mausarmen Bewohnenden auch den dringend benötigten finanziellen Aufschwung.
Ist ein Freilicht-Theater auch etwas für dich?
Familie Taugwalder Es gab aber auch eine Kehrseite der Medaille. «Villicht isch es schlimmer, so öppis z’überläbe, als z’stärbe», bringt es die blinde Marie auf den Punkt und meint damit insbesondere Bergführer Peter Taugwalder Vater.
Er wurde von Edward Whymper beschuldigt, das Seil, an welchem die vier zu Tode gestürzten gesichert waren, absichtlich durchtrennt zu haben, um sein eigenes Leben zu retten. Taugwalders Version der Geschehnisse unterschied sich fundamental von den Erzählungen des Engländers, doch wie dieser gleich zu Beginn klar macht: «Wer zahlt, befiehlt!»
Dies hat sich dann auch auf das Narrativ dieser dramatischen Erstbesteigung übertragen. «Tatsächlich hat sich das Gerücht, das Whymper in die Welt streute, noch jahrhundertelang gehalten», bestätigt David Taugwalder, der in der Rolle des Peter Taugwalder Sohn zu sehen ist. «Peter Taugwalder Sohn war mein Ur-ur-ur-Grossvater und insbesondere mein Vater hat sich während Jahren intensiv mit unserer Familiengeschichte befasst. Mir selbst wurde etwa mit 14 Jahren erstmals bewusst, welches Ausmass dieses Drama hatte.»
Obwohl Peter Taugwalder Vater schon damals von jeglicher Schuld freigesprochen worden war, hatte Richards Uraufführung 2015 eine grosse Wirkung auf die Taugwalders von heute. «Das Stück war in gewisser Weise die Rehabilitation unserer Familie. Dass ich heuer Teil dieser Aufführung sein darf, ist für mich ein grosses Privileg und emotional sehr berührend», beschreibt der Schauspieler seine Gefühle.
Authentisch und sprachgewandt Livia Anne Richard ist denn auch begeistert von der Leistung Taugwalders, aber auch aller anderen Darstellenden. «Dieses Ensemble ist unglaublich», sagt die Regisseurin nach der Premiere. «Wir haben Menschen von 8 bis 89 Jahren auf der Bühne. Und ausser zwei Profi-Darstellenden sind es alles Laienschauspielende. Es war mir zugunsten der Authentizität wichtig, dass wir die Geschichte mit Menschen von hier erzählen. Was diese in den vier Probe-Monaten gelernt und geleistet haben, erfüllt mich mit grosser Freude und Dankbarkeit», sagt sie.
Auch, dass sie die Charaktere teils Englisch, teils Französisch und insbesondere Walliserdeutsch sprechen lässt, soll die damaligen Verhältnisse aufzeigen: «Die gebildeten Engländer sprachen Hochdeutsch, verstanden aber natürlich kein Walliserdeutsch. Wie auch die Walliser, die kaum Englisch und auch nicht wirklich Hochdeutsch sprachen. Diese sieben Männer, die da zusammen in einer überstürzten Aktion aufbrachen, konnten sich also, abgesehen von all den andern Herausforderungen am Berg, kaum miteinander verständigen.»
Eine weitere Aktualität dieses Dramas – steht und fällt nicht auch heute noch alles im Leben mit einer unmissverständlichen Kommunikation?
Während uns die Gornergratbahn wieder zurück nach Zermatt bringt und das Matterhorn langsam von der Nacht eingehüllt wird, lassen wir das Stück nochmals Revue passieren und finden: Diese Geschichte sollte definitiv noch oft erzählt werden!