Er würde besser «Die Abtrünnige» heissen: Der Schweizerfilm «Der Unschuldige» zeigt eine Frau in den Fängen einer Freikirche.
Ruth (Judith Hofmann) holt sich in «Der Unschuldige» mehr als nur ein blaues Auge.
Ruth (Judith Hofmann) holt sich in «Der Unschuldige» mehr als nur ein blaues Auge. - Ascot Elite

Das Wichtigste in Kürze

  • Simon Jaquemets «Der Unschuldige» blickt in den Kreis der Freikirche.
  • Trotz vielen Längen gelingt dem Schweizerfilm ein denkwürdiges Ende.
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Ruths (Judith Hofmann) Leben verläuft in Grautönen: Sie hat zwei Teenager-Töchter, arbeitet als Tierärztin in einem Labor für Neurowissenschaften und betet an der Seite ihres lieben Mannes in einer Freikirche.

Nachdenken, anecken, hinterfragen, kritisieren – keine Eigenschaften, die die Freikirche fördert. Darum wirft es Ruth vordergründig auch nicht aus der Bahn, als bei einem Tierversuch der Kopf eines Affen transplantiert wird. Sollen die Wissenschaftler sich doch gottgleich geben, Ruth kümmert sich um ihr kleines Gärtchen und lässt sich nicht aus dem Alltagstrott reissen. Doch dann kommt Andi (Thomas Schüpbach).

20 Jahre Knast

Vor 20 Jahren war Ruth noch eine Andere. Da sah man sie kämpferische und laut ihren Verlobten verteidigen. Obwohl er seine Unschuld beteuerte, wurde Andi des Mordes an einer reichen Tante schuldig gesprochen. Er kam ins Gefängnis und verschwand aus Ruths Leben. Jetzt, 20 Jahre später, ist Andi zurück.

Er ist in Ruths Gedanken, er ist in Ruths Vorstellung. Er ist hinter ihr, wenn sie joggt, einkauft, nach Hause kommt. Er ist hinter ihr her. Er ist in ihrem Wohnzimmer, auf ihrem Sofa, in ihrem Herzen. Er ist immer da, wenn Ruth alleine ist. Er wartet darauf, dass sie ihm folgt. Doch – wohin?

Teufel komm raus

Denn Andi, sagen die Behörden und die Freunde von früher, ist direkt aus dem Knast nach Indien gereist und dort bei einem Zugunglück gestorben. Verliert Ruth den Verstand? Spielt Andi mit allen ein Spiel – ausser mit ihr? Oder war es wirklich der Teufel, mit dem Ruth auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen hat?

Der Unschuldige – Andi (Thomas Schüpbach) – kehrt nach Jahren im Gefängnis zu seiner ehemaligen Verlobten zurück. Womöglich.
Der Unschuldige – Andi (Thomas Schüpbach) – kehrt nach Jahren im Gefängnis zu seiner ehemaligen Verlobten zurück. Womöglich. - Ascot Elite

Realität oder Fantasie? Teufelswerk oder Krankheit? Und wer darf darüber richten? Simon Jaquemet lässt in «Der Unschuldige» die Grenzen bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Genau das ist die Stärke seines zweiten Spielfilms.

Je tiefer Andi, der Unschuldige, in Ruths Leben eindringt, umso abtrünniger wird sie der Freikirche. Doch je mehr Ruth sich abwendet, um so enger umspannen sie die Stricke ihrer Gemeinde. Um die Mechanismen der Freikirche zu verstehen, hat der Basler Regisseur Jaquemet sich monatelang zum Gottesdienst unter die Freikirchler gemischt.

Zermürbendes Beobachten

So gelingt Jaquemet, der 2015 mit seinem Debüt «Chrieg» in der Schweizer Filmszene und an internationalen Festivals auffiel, ein beklemmendes Porträt der Freikirchenszene. Ohne zu karikieren zeigt er auf, wie liebevolles Verständnis einen ersticken kann. Wie kantenloses Dasein zermürbt. Ist es das Wissen um Andis Haft-Ende, das Ruth in den Wahnsinn treibt? Oder sind es die unsichtbaren Mauern der Freikriche, die ihren Geist langsam unter sich begraben? Oder ist doch alles anders?

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Teufelsaustreibung und inszenierte Nächstenliebe in der Freikirche. - Ascot Elite

Zermürbend lange hält Jaquemet die Kamera auf Ruth und ihre Welt. Lässt uns kein Detail verpassen. Zwingt uns hinzusehen, wenn Ruth verzweifelt. Verfolgt mit der Kamera die Frau, die sich so verfolgt fühlt. Lässt die Musik weg und ersetzt sie durch Ruths stossenden Atem. Durch den Klang des lautlosen Hauses, in dem Andi auf sie wartet. Durch die Geräusche der Nacht, aus der Ruth ihre Tochter rettet. Durch das Knirschen des Glaubens, den Ruth verloren hat.

Wunde Fingerkuppen

Was entsteht ist ein Film, den man kaum bis zum Ende erträgt und von dem man doch nicht wegsehen kann. Gut tut «Der Unschuldige» nicht. Im Gegenteil, er lässt einen die Fingerkuppen wund nagen. Davor bewahren einen auch die Längen, die der Film durchaus aufweist, nicht.

Doch alles in allem liefert Jaquemet einen Film, über den man nachdenken muss, um ihn wirklich gesehen zu haben. Und dessen Ende erst im Kopf des Betrachters eintritt. Das ist grosses Kino in unserem kleinen Land.

★★★☆☆      
Ab dem 1. November im Kino.

Der Unschuldige (Simon Jaquemet, CH / DE 2018)
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